XLphoto, Andreas Kramer

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Pacific Crest Trail

Bücher

Reiseerzählung, Taschenbuch, 284 Seiten, Schwarzweissfotos (1. Auflage), Farbfotos (2. Auflage 2008)
Conrad Stein Verlag


...Eigentlich glaubten wir selbst nie so recht daran, dass wir eines Tages tatsächlich mit unseren Rucksäcken am Stacheldrahtzaun der Grenze zwischen Mexiko und den USA stehen würden. Was hatten wir uns bloß gedacht, als wir beschlossen dem 4277 Kilometer langen Pacific Crest Trail zu folgen, der hier, an der staubigen, buschüberzogenen Staatsgrenze beginnt und sich bis Kanada hochzieht. Was ist uns in den Sinn gekommen, als wir entschieden, diese Strecke nicht etwa per Flieger, Auto oder Fahrrad zurückzulegen, nein, wir wollen das Kunststück zu Fuß vollbringen. Fünf Monate im Zelt, Regen, Schneegestöber oder unter der sengenden Wüstensonne. Fünf Millionen Schritte durch Sand, Matsch und Eis, über scharfes Lavagestein, üppig grüne Wiesen, vergletscherte Bergflanken und durch reissende Hochgebirgsbäche.

"Auf was lassen wir uns da ein?” fragte ich Kathrin, als wir Geschichten von verschollenen, erschöpften und sich quälenden Hikern lasen. 'Verdurstet an einen Kaktus gelehnt' war genauso wenig einladend wie 'zerquetscht unter einem Baum vorgefunden'. Was wird der Trail für uns bereithalten? 'Schneestürme in den Laguna Mountains bis Ende April, erdrückende Hitze im San Felipe Tal, Wanderer sollen mit keinerlei Wasser abseits der Zivilisation rechnen, in niederschlagsreichen Jahren trifft man in den San Jacintos auf eine hüfthohe Schneedecke, Klapperschlangen machen sich normalerweise rasselnd bemerkbar, falls nicht, vermeide man den Bissder Grünen Mojave, denn sonst endet man nach sechs Stunden als Kojotenfutter'. Wie werden wir Bären, Klapperschlangen, Zecken, wütende Pumas und giftige Spinnen überlisten? Wie steht es mit unserer Kondition? Haben wir etwa unsere Muskelpakete tagtäglich mit 200 Klimmzügen gestählt? Vielleicht waren wir mal während eines sonnigen Wochenendes fünfzig, sechzig Kilometer über heimatlichen Hügel gewandert. Doch was hat dies mit fünfzig Kilometer am Tag durch Wind und Sturm, über Pässe und durch hüfthohe Gletscherflüsse des über viertausend Kilometer langen Trails gemeinsam?




...Wieder einmal bin ich zu weit auf die Seite gerollt und meine Nase klebt am Zeltstoff. Aber irgendwie ist es heute anders, denn es dünkt mich, dass das Zelt eher zu mir herübergeklatscht kommt als umgekehrt. Und seit wann schnaubt ein Zelt? Es ist stockfinster, Kathrin schlummert wie ein Murmeltier, und ich versuche Klarheit darüber zu erlangen, warum mir das Zelt über den Kopf wächst. Also nochmals; der nasskalte Stoff klebt an meiner Nase und er schnaubt. Schlaftrunken lausche ich gespannt weiter. Jetzt beginnt etwas zu scharren und der Boden vibriert ganz leicht. Vielleicht eine Maus? Die kann zwar leise krabbeln, doch ihre nächtlichen Aktivitäten ähneln kaum einem Scharren. Und wie bringt sie den Boden zum vibrieren? Ist es etwa ein Hirsch? Paarhufer scharren und trampeln unsacht durchs Gebüsch, aber schnauben sie etwa? Ich grüble weiter, bis nur noch eine Lösung übrig bleibt:
Ein BÄR!
Ich kriege Gänsehaut. Ein Schaudern durchdringt mich, als mir klar wird, daß mir gerade der Kuss eines Schwarzbären entgangen ist. Halleluja, Vater vergib mir all meine Schuld! Nie wieder werde ich mich über Frauen, Amis oder den Rest der Welt lustig machen. Bocksteif liege ich auf meinem Totenbett, ein paar Micron Nylon trennen mich von den zehn Zentimeter langen Krallen dieses Muskelpakets. Wie war das schon wieder?
'Verhalte dich ruhig, schau ihm nicht in die Augen, provoziere nicht und zieh dich langsam zurück.' Ha, ist jemals wer steifer dagelegen als ich? Wie sollte ich ihm in der Finsternis in die Augen schauen? Provoziere ich etwa und wohin um Himmelswillen soll ich mich verkriechen? Scheisstips. Ich weiss nur eines, wenn Bären dich zu töten und verspeisen gedenken, können sie dies tun, wann immer sie wollen. Das geschieht zwar nicht gerade häufig, doch darin liegt der springende Punkt, ein einziges Mal reicht völlig aus!
‚Nimm nicht mich, nimm nicht mich', flehe ich, doch wen sonst soll er anknabbern? Kathrin? An ihr ist kaum was zu beissen, da findet Meister Petz mehr gefallen an mir. O.K., ich werde in Zukunft auch nicht mehr so gierig futtern, versprochen! Noch immer schnüffelt er ums Zelt herum, ich bibbere in meinem Schlafsack und bin zu feige, um ihm eins auf die Schnauze zu geben. Wenn mir wenigstens Kathrin beistehen würde, aber nein, sie pennt tief und fest und träumt was Süsses.
‚Geh bitte, bitte zu unseren Esswaren rüber', winsle ich‚ da kannst du alles haben!'
Als ob es mich verstünde, zieht er tatsächlich den Hang rauf und in der Ferne vernehme ich, wie er an unsere im Baum hängenden Vorräte zu gelangen versucht. Ich überlege nochmals: Wir haben dreieinhalb Tage vor uns, siebenundachtzig Kilometer oder zehn Haupt- und sieben Zwischenmahlzeiten. Verdammt viel für einen Bären als Mitternachts-Snack.
‚Du niederträchtiges Vieh, mach, dass du von unserem Proviant fortkommst!' will ich rufen, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken, zu feige bin ich, um nur einen Piepser rauszulassen. Er scheint tatsächlich nicht an unser Essen ranzukommen, denn ich höre weder ein Schmatzen noch ein zufriedenes Rülpsen.
‚Soll dir recht geschehen, dummes Vieh, an mein Bearbaging kommt keiner so schnell ran!'
Doch die Stunde der Rache scheint gekommen zu sein, denn Brummi tappt wieder zurück zu unserem Zelt, und will sich mit einem von uns Zweien abgeben. Wie eine Mantra murmle ich Cindy Ross' Zeilen vor mich her: ‚Hier draussen ist jede Stunde ein Abenteuer.' Wie wahr ihre Worte doch sind! Die, die es durchstehen, hatten die Begeisterung und den Traum, das ‚Ende' zu erreichen.' Ist nicht das Paradies das ‚Ende' alles Menschenwesen? Hat sie das gemeint? Oh, nein, nicht mit mir, ich will Kanadas Luft schnuppern! Ich nehme all meine Courage zusammen und riskiere das Abenteuer, es mit meinem Widersacher aufzunehmen: Als er wieder zum Greifen nahe an meinem Kopf schnuppert - ich kann sogar seinen fauligen Atem riechen - zische ich sanft, fast entschuldigend, so dass es nicht einmal Kathrin vernimmt, zwischen den Zähnen. Der Bär, ich wiederhole, es ist zweifelsohne ein zweihundert Kilo schwerer Ursus americanus, wie uns die Spuren am Morgen verraten werden, nimmt einem Satz, daß die Äste krachen und zischt davon, als ob ein Wespenschwarm hinter ihm her wäre!




...Der PCT verschwindet nahe unseres Camps in einem dichten Waldstück. Doch bevor wir auch nur einen Schritt hineinsetzen, stossen wir auf eine unübersehbare Notiz:
'PCT geschlossen / Ausweichroute ist die Forststrasse 38N10 bis Kilometer 35 / Shasta National Forest Forstamt, 20. Juli.'
Aha, die 38N10 also. Sehr schöner Name für einen Fahrweg. Wenn auch die Bezeichnung nichts hergibt, so doch unsere Landkarte, auf der wir die gestrichelte Linie genau verfolgen können. Erfreulicherweise ist sie mit dem PCT beinahe parallel, also müssen wir keine Umwege in Kauf nehmen. Ein wenig traurig, dass wir dem längsten Wanderweg der Welt nicht weiter folgen können, stampfen wir los. Auf der breiten Naturstrasse, kommen wir zügig voran, auch wenn uns die Sonne auf Grund der recht breiten Schneise gewaltig auf's Hirn prasselt. Wir haben kaum Probleme, die Stämme die sich's auf der Fahrspur bequem gemacht haben, zu überkraxeln. Lediglich bei den Strassenverzweigungen, und davon gibt es unzählige, kommen wir ganz schön ins Strudeln, denn sie sind frisch in den Wald gepflügt und auf keiner Karte eingezeichnet. So richten wir uns nach der Sonne, wie echte Pfadfinder, halten uns so gut es geht nach Norden und treffen somit stets die richtige Wahl. Vier, fünf Mal kreuzen wir den PCT, aber ein Blick ins Dickicht überzeugt uns davon, daß wir lieber auf der 38N10 bleiben.
"Was meinst du", frägt mich Kathrin, "da vorne macht die Strasse einen großen Umweg, wollen wir's nicht wieder mit dem PCT versuchen?"
Ein Kartenstudium klärt mich auf, dass wir mit dem Trail etwa eineinhalb Kilometer sparen könnten. Nochmals blicke ich in den Wald, überdenke, wie viele Schritte wir auf den tausendfünfhundert Metern machen müssen, und entscheide mich für die Abkürzung. Die ersten zwei Bäume nehmen wir mit links, einmal oben und einmal unten durch. Den dritten können wir geschwind umgehen und um den vierten balancieren wir, indem wir auf den fünften gefallenen Riesen steigen und so auch gleich über den sechsten hinwegsteigen können. Sieben und acht gehen wieder unten durch und beim neunten, ja beim neunten, da bleibe ich buchstäblich stecken. Ich versuchte mich zwischen seinen Strünken durchzuquetschen, aber mein Rucksack ist zu breit und nun hänge ich mit den Beinen strampelnd, wie ein Zirkusfloh, in der Luft.
"Mach mich los", zetere ich zu Kathrin, die sich ein Lachen nicht verkneifen kann.
"Jetzt löse endlich meine Riemen!"
Gemeinsam versuchen wir mich zu befreien, gar nicht so einfach, hat sich mein Pack doch wie eine Klette an der Rinde verzahnt und steckt wie ein Keil dazwischen. Es bedarf einiges an Fummelei, bis ich endlich wie eine heisse Kartoffel zu Boden klatsche.
"Mach nicht so ein langes Gesicht!" prustet Kathrin, "wir haben ja schon ein Dutzend Stämme hinter uns."
"Ein Dutzend?" frage ich. "Neun, und keinen mehr!"
Ich klettere auf den Koloss und hieve die Rucksäcke oben drüber. Kathrin zwängt sich durch's Gehölz. Bravo, zwanzig Minuten für vierhundert Meter! Wir sind über keine fünf Hindernisse hinweggetanzt, als uns pappig, nasser Schnee das Leben zusätzlich erschwert. Ich trete auf verschneite Äste, die mir wie Schleudern zwischen die Beine fahren, stolpere über Knorren, die mir die Haxen verdrehen und wälze mich über matschige Stämme, die mich in eine Ekstase genüsslicher Schweinerei versetzen.
Ratsch – mein T-Shirt bleibt an einer Astgabel hängen. Ich befreie mich mit dem Resultat, dass sich meine Fototasche selbstständig macht und den Abhang runterkullert. Mit einem Hechtsprung nehme ich die Verfolgung auf und lande in einem Gebüsch. Zähneknirschend angle ich mich wieder zum Trail hoch.
"Scheiss PCT", brumme ich.
"Was?" will Kathrin wissen.
"Wieso wolltest du unbedingt hier durch?" frage ich sie.
"Ich? Du hast doch die Abkürzung nehmen wollen."
"Ja und wer hat den Vorschlag gebracht?" bohre ich nach.
"Ich hab nur den Vorschlag gemacht, aber entschieden hast du!" entgegnet sie vehement.
"Ach so, wie war das mit dem Apfel?" erkundige ich mich.
"He?"
"Eva hat den Apfel zwar nicht gegessen, aber sie hat ihn Adam gegeben!"
Wir schmollen uns eine ganze Weile an, doch bringt uns das kein bisschen schneller voran. Nach einer guten Stunde, tausend Stämmen und einer Million akrobatischer Einlagen, schaffen wir es wieder zurück zur 38N10.



© Andreas Kramer, XLphoto, 2003


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